Filmstarts der Woche: »Triangle of Sadness«, »Earwig«, »Der Passfälscher« (2024)

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Filmstarts der Woche: »Triangle of Sadness«, »Earwig«, »Der Passfälscher« (1)

Ab 13. Oktober im Kino

»Triangle of Sadness«

Die Filme des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund sind wie am Reißbrett entworfene soziologische Versuchsanordnungen, die auf vielerlei Ebenen spielen können. Eine davon ist: Wie lange wird die auf internationalen Festivals über Filme richtende Arthouse-Blase sein spektakuläres, aber auch leicht durchschaubares Klassenkampf-Kino noch goutieren, wann kippt die Stimmung gegen ihn?

Im Moment befindet sich der 48-Jährige wohl auf dem Zenit seines Erfolgs: 2014 gewann er mit »Höhere Gewalt« den Jurypreis des Nebenwettbewerbs in Cannes, 2017 dann mit »The Square« die Goldene Palme – und dieses Jahr erhielt er mit dem Abschluss seiner satirischen Trilogie erneut die höchste Auszeichnung des Cineasten-Fests an der Croisette. In »Triangle of Sadness« drängt er wieder Menschen privilegierter Kasten aus ihren Komfortzonen und konfrontiert sie auf drastische Weise mit der Fragilität und Absurdität ihrer gesellschaftlichen Gewissheiten. Hier setzt er ein mit Schönheitszwängen, Geldnöten und Geschlechterrollen haderndes Influencer-Pärchen (Harris Dickinson und die kürzlich früh verstorbene Charlbi Dean) auf ein Luxus-Kreuzfahrtschiff für Superreiche.

Alsbald gerät die Jacht in stürmische See – und die Dekadenzblase wird dank angegammelter Gourmetspeisen auf ihre jämmerlichste Menschlichkeit zurückgeworfen: Ein solches Inferno aus Erbrochenem und Fäkalien hat das Kino seit Marco Ferreris »Das große Fressen« (1973) nicht mehr erlebt. Den griechischen Chor dazu bilden der US-Kapitän (Woody Harrelson) und ein postsowjetischer Großunternehmer, die sich auf dem bald sinkenden Schiff gegenseitig mit Marx-, Lenin- und Reagan-Zitaten beharken und einen besoffenen Systemdiskurs führen – aber die metaphorische »Titanic« natürlich nicht vor dem zwangsläufigen Untergang retten. Das brachial-nihilistische Grand Guignol mündet in ein »Herr der Fliegen«-Szenario, in dem eine asiatische, auf dem Schiff noch marginalisierte Putzfrau (Dolly De Leon) unter den Gestrandeten ein Matriarchat errichtet – weil sie als einzige Fische fangen, Feuer machen und kochen kann. Dem Kapitalismus ist allerdings auch so nicht zu entkommen: Wer mit ihr im warmen Rettungsboot übernachten und mit Salzstangen gefüttert werden will, muss mit Sex bezahlen.

Östlunds Film ist irrwitzig komisch und kaschiert dadurch, dass sich in diesem Bermudadreieck der Traurigkeit keine Empathie verbirgt, sondern vielleicht nur das herzlose Kalkül eines sehr cleveren Filmemachers. Andreas Borcholte

»Triangle of Sadness « S, F, D, UK, USA 2022. Buch und Regie: Ruben Östlund. Mit Harris Dickinson, Charlbi Dean, Woody Harrelson, Sunnyi Melles, Iris Berben, Vicki Berlin

»Der Passfälscher«

Frechheit ist manchmal eine kluge Strategie. In einer Szene des Films sitzt der Held, ein junger Jude im Berlin des Jahres 1942, auf einem Behördenflur und sieht, wie zwei Zivilpolizisten die Papiere aller Bittsteller kontrollieren –und statt zu warten, bis die beiden bei ihm angelangt sind, springt er auf, schnauzt die Beamten an und fordert seinerseits die Präsentation ihrer Ausweise. Cioma Schönhaus, gespielt von Louis Hofmann, ist in »Der Passfälscher« ein begabter Hochstapler, der sogar in der Rolle des hochrangigen Nazischergen glaubwürdig wirkt.

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Die Eltern und die Großmutter des 19-jährigen Cioma wurden aus der Berliner Altbauwohnung abgeholt und in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Er selbst arbeitet in einem Rüstungsbetrieb und darf vorläufig in der Stadt bleiben. Gemeinsam mit einem gleichfalls jüdischen Freund (Jonathan Berlin) und einer jungen Frau (Luna Wedler) lässt sich Cioma, als sei das nicht von den sogenannten Ariern verboten, durchs Berliner Nachtleben treiben und ignoriert die Gefahr.

Weil er eine große Begabung als Grafiker hat, fängt er an, für einen Anwalt Ausweispapiere zu fälschen – für Menschen, die aus Deutschland flüchten wollen. Die Regisseurin Maggie Peren erzählt die wahre Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der den Nazis tatsächlich entkam und von 1922 bis 2015 lebte, in elegischen und manchmal ein bisschen zu prachtvollen Bildern. Die Verfolger des Helden, eine Blockwartswitwe (Nina Gummig) und einen Kommissar (André Jung), schildert sie als differenziert kaputte Mitläuferexistenzen; das Nazi-Berlin der Vierziger zeigt sie als fast heutige Alltagswelt ohne brüllende Fanatiker und pompöse Herrschaftssymbole. Der Hauptdarsteller Hofmann besticht durch glühenden Charme und ist der Star in einem durchweg wirklich hinreißenden Ensemble von Mitspielerinnen und Mitspielern. Wolfgang Höbel

»Der Passfälscher«. Deutschland, Luxemburg 2022. Buch und Regie: Maggie Peren. Mit Louis Hofmann, Luna Wedler, Jonathan Berlin, Nina Gummig, André Jung. 116 Minuten

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»Earwig« (ab 15. Oktober auf Mubi)

Ob es an den wirren Corona-Träumen liegt, die die halbe Welt in den ersten Monaten der Pandemie kollektiv hatte? Der Surrealismus erlebt jedenfalls eine Renaissance und mit ihm seine Fixierung auf Träume. In der Tate Modern war in diesem Sommer die Ausstellung »Surrealism Beyond Borders« mit einem Fokus auf die Bewegung jenseits von Paris zu sehen, Salvador Dalí wurde jüngst von Ben Kingsley in einem Biopic verkörpert, und auf der Venedig Biennale haben noch bis zum 27. November unter dem Motto »Die Milch der Träume« vergessene Künstlerinnen aus der ersten Hochphase des Surrealismus ihren großen Auftritt.

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So gesehen passt »Earwig«, der neueste Film von Lucile Hadžihalilović, bestens in unsere Zeit, obwohl sich die französische Regisseurin, Editorin und Produzentin in keinem Moment ihrer mittlerweile 35 Jahre umfassenden Karriere um Anschluss an den Zeitgeist bemüht hat. Die Bilder des belgischen Surrealisten René Magritte sind die beste Vergleichsgröße für »Earwig«, so strebsam präzise zieht Hadžihalilović den Film auf – und so konsequent lässt sie ihn dann ins Verstörende kippen.

Es beginnt mit einem Mädchen (Romane Hemelaers), das in einem mit nur dem Nötigsten ausgestatteten Haus von einem Mann (Paul Hilton) betreut wird, zu dessen Aufgaben es unter anderem gehört, dem Mädchen alle paar Stunden neue Zähne aus Eis einzusetzen. Der Alltag der beiden ist so karg und Ton und Licht so spärlich eingesetzt, dass die ersten Minuten von »Earwig« wie der vorsätzliche Entzug von Sinneseindrücken wirken. Erst einmal an diesen sensorischen Minimalismus gewöhnt, ist dafür alles, was Hadžihalilović nach und nach in ihren Film holt, umso überwältigender: die Weite eines Parks, der hypnotische Schimmer eines Kristallglases, der Gewaltausbruch des Mannes, der einer Kellnerin plötzlich das Gesicht aufschneidet.

Eine Geschichte im strengen Sinne erzählt »Earwig« nicht, die zeitliche Abfolge der gezeigten Ereignisse wird im Verlauf immer schwieriger zu bestimmen, die Beziehung des Mannes zu dem Mädchen wird mal klarer, mal unschärfer. Doch nach logischen Verknüpfungen sollte man in einem surrealistischen Werk auch nicht suchen, sondern vielmehr den eigenen Schrecken, Begierden und Ängsten nachspüren. Genau dafür bietet Hadžihalilovićs Inszenierung, unterstützt von extrem genauer Arbeit an Bild, Sounddesign und Score, jede Menge Gelegenheit. Filmdeutung als Traumdeutung: Hier wird es möglich. Hannah Pilarczyk

»Earwig« BEL, F, UK 2021. Regie: Lucile Hadžihalilović. Buch: Geoff Cox, Lucile Hadžihalilović. Mit Romane Hemelaers, Paul Hilton, Romola Garai, Alex Lawther. 114 Minuten

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Author: Corie Satterfield

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